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Die Harmonie des ganzen Menschen

Wie vor hundert Jahren, als Rudolf Steiner vor den werdenden Lehrerinnen und Lehrern in 14 Vorträgen zur Menschenkunde, 14 Besprechungen und 14 Kursstunden den Geist der Waldorfpädagogik entfaltete, gab es an der Sommertagung vor den aus aller Welt angereisten Lehrerinnen und Lehrern 14 Bilder und 14 Lehrerbiografien zu diesen 14 Tagen – eine besondere Feier zum Jubiläum der Waldorfpädagogik.


Jon McAlice erzählt gerne Geschichten. Gleich zu Beginn seines Vortrages über den zehnten Tag von Rudolf Steiners ‹Erstem Lehrerkurs› hören wir die Geschichte von Malidoma Some, der als Fünfjähriger aus seinem westafrikanischen Dorf in ein Jesuitenkolleg gebracht wurde und dort zum katholischen Priester ausgebildet werden sollte. Der intelligente Knabe wurde im westlichen Denken geschult, bis er – schon ein junger Mann – nach ungezählten Demütigungen die Entscheidung traf, vom Kolleg zu fliehen und in sein Dorf zurückzukehren. Leider wussten seine Verwandten dort trotz aller Wiedersehensfreude nicht so richtig, was sie mit ihm anstellen sollten: Er war ein Fremder, ein schwarzer Europäer geworden. Für sie war die Welt belebt, voll vom Gesang der Dinge: Die Erde, der Wind, die Tiere und Pflanzen, sie alle hatten eine Stimme und Malidoma war für sie taub geworden.

Mit den jungen Männern des Dorfes begab er sich auf den üblichen Einweihungsweg, und die erste Aufgabe war, einen Baum anzusehen. Da saß er nun, Stunde um Stunde, und sah einen Baum. Sonst nichts. Am nächsten Tag wieder. Ein Baum. Botanik hatte er gelernt, auch die afrikanische Geografie, und vor ihm stand … ein Baum. Am dritten Tag begann er, dem Baum seine Geschichte zu erzählen – und nach einiger Zeit war es, als spräche dieser zurück!

So sitzt man im Saal des Dornacher Goetheanum, lauscht der eindrucksvollen Geschichte und wundert sich: Was hat das jetzt mit der Menschenkunde Rudolf Steiners zu tun? Und dann sagt Jon McAlice: «So kann es einem auch mit diesem Buch gehen», und hält es in die Luft. «900 Seiten Weisheit, und man liest und liest und es bleibt ein Buch. Was müssen wir tun, damit es zu uns spricht?»

Das ‹Buch› ist die Neuausgabe von Rudolf Steiners ‹Erstem Lehrerkurs›. Im August 1919, überraschend kurz nach der Entscheidung, für die Kinder der Arbeiter in Emil Molts Zigarettenfabrik eine Schule zu eröffnen, versammelte Rudolf Steiner 24 Menschen auf der Stuttgarter Uhlandshöhe und gab ihnen einen dreiwöchigen Einführungskurs, der aus drei Teilen bestand. Morgens die ‹Allgemeine Menschenkunde›, nach der Pause ‹Methodisch-Didaktisches› und am Nachmittag jedes Tages gab es die ‹Seminarbesprechungen›: drei Stunden Gespräch mit den angehenden Lehrern, in denen Steiner mit großer Einfühlsamkeit zuerst die Psychologie des Kindes entschlüsselte und ihnen dann Unterrichtsaufgaben zuteilte. Sie durften unter seiner Anleitung das Lehren üben, hatten ja viele von ihnen, obwohl von Steiner zu dieser Aufgabe berufen, noch nie vor einer Gruppe Kindern gestanden und sollten doch miteinander binnen weniger Wochen das Kollegium der ersten Waldorfschule bilden.

Von Experten und Enthusiasten

Vor 100 Jahren fand dieser Kurs statt, und bis jetzt waren die Mitschriften immer in drei verschiedenen Büchern veröffentlicht worden. Das hat sich in diesem Jubiläumsjahr geändert: Von Urs Dietler, Susanne Speckenbach und Andrea Leubin bearbeitet, ist nun die Studienausgabe erschienen: alle Beiträge des Kurses in chronologischer Reihenfolge, ergänzt durch umfangreiche Notizbucheinträge Steiners und sämtliche erhaltenen Präsentationen der Teilnehmer in den seminaristischen Übungen. Dieses schön gestaltete, schwere, aber überraschend handfreundliche Buch sah man in vielen Taschen, als am Goetheanum in der zweiten Juliwoche eine ganz besondere Tagung stattfand:

 


Claus-Peter Röh, Foto: Sven Saar

Claus-Peter Röh, Foto: Sven Saar

 

Zum ersten Mal sollten hier in einer einzigen Zusammenkunft alle Vorträge dieser Reihe bearbeitet und untersucht werden, von einem internationalen Kreis aus Experten und Enthusiasten. Die neue Zusammenstellung von teilweise vertrautem Material inspirierte an acht aufeinanderfolgenden Tagen 14 hochwertige Vorträge anerkannter Fachleute, jeweils gefolgt von Arbeitsgruppen zur inhaltlichen und künstlerischen Vertiefung. In der Planung erschien kein Raum (und vielleicht auch kein Anlass) für Gesang, Eurythmie, Spiel, Abendveranstaltungen, die sonst für die Ganzheitlichkeit und für gesunden Atem sorgen. Hier, so die Ausgangsidee, würden ernsthafte Menschen ernsthafte, intensive Arbeit leisten. Dann meldeten sich Hunderte von Teilnehmern an. Wie üblich sind über drei Dutzend Länder vertreten. Überraschung: Über ein Viertel kommt aus Lateinamerika, die deutliche Minderheit aus Mitteleuropa. Die Dolmetscher ins Englische und Spanische arbeiten mindestens genauso oft zurück ins Deutsche, die meisten Arbeitsgruppen verständigen sich auf Englisch. Es wird also doch gesungen! Vor den Vorträgen erklingt brasilianische Musik, und abends, wo man freie Zeit zur Erholung hat, treffen sich Gruppen zu lebhaftem Austausch und Tanz.

Claus-Peter Röh erinnert im ersten Vortrag die Zuhörer, dass Steiner die Gründung der Schule nicht als Beitrag zur Reformpädagogik verstanden haben wollte: Einen «Festesakt der Weltenordnung» nennt er es, und beruhigt seine Zuhörer, für die die Latte gerade ins Unermessliche gehoben wurde, mit der ‹Schalen-Imagination›. Nicht nur, dass jeder einzelne Lehrer von seinem Engel gestärkt wird, auch die offenherzige Zusammenarbeit erfährt Unterstützung aus der geistigen Welt. Die Erzengel formen eine ‹Schale des Mutes›, in der die Zeitgeister im richtigen Moment einen Tropfen Weisheitslicht erstrahlen lassen. Besonders treffend an diesem Bild finde ich, dass mein Engel hinter mir steht: Auf Englisch sagt man: ‹I’ve got your back!›, wenn man jemanden freilassen möchte, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, ihn aber voller Vertrauen in seine Intentionen dabei unterstützt – und ihn auffängt, sollte es trotz ehrlicher Bemühungen schiefgehen.

Marcel de Leeuw führt den zweiten Tag beider Konferenzen ein: Hier geht es ums Denken! Das Bild, aus der Antipathie entstanden, ist immer ‹subreal›, also weniger als die Wirklichkeit, trägt aber die geistige Realität unserer Vergangenheit in sich. Dem gegenüber steht der sympathische Wille, dessen Impulse uns bis ins Nachtodliche führen. Er ist ‹superreal›, in dem Sinne, dass eine Eichel in ihrer weißen, amorphen Masse natürlich das ganze Potenzial eines mächtigen Baumes enthält, aber eben ‹überwirklich›, weil erst zukünftig sichtbar. Dieses Bild hat wichtige Bedeutung für den Lehrer: Innerlich muss ich jedem Kind zwei Fragen stellen: «Wo kommst du her?», um es bedingungslos annehmen, aber verstehen zu können, andererseits «Wo willst du hin?», um es respekt- und liebevoll bei der Umsetzung seines Schicksalsweges zu unterstützen. Ich kann aus einer Eichel eben keine Tanne wachsen lassen, bloß weil die in dieser Gegend besser gedeihen würde – meine Aufgabe ist es, die Umgebung des Kindes so‹eichenaffin› wie möglich zu gestalten.

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Innerlich muss ich jedem Kind zwei Fragen stellen: «Wo kommst du her?», um es bedingunglos annehmen und verstehen zu können, und «Wo willst du hin?», um es liebevoll bei der Umsetzung seines Schicksalsweges zu unterstützen.

Jost Schieren spricht am dritten Tag über das Gefühl und erinnert daran, dass die Vorherrschaft des erkennenden Denkens erst spät begann, nämlich in der Zeit der Aufklärung, und sofort auch Kritik hervorrief, zunächst bei den Romantikern, aber natürlich auch bei Novalis und Goethe. Beispielhaft erwähnt Steiner im methodischen Vortrag, dass man Gedichte nicht nach dem Lesen analytisch zerpflücken dürfe, sondern sie erst nach gründlicher Erarbeitung des Zusammenhangs rezitieren und dann im Gemüt wirken lassen solle. Wieder und wieder weisen diese Vorträge darauf hin, wie wichtig es ist, das sich entwickelnde Kind als ganzen Menschen anzusprechen, indem man die einzelnen Seelenfunktionen – Denken, Fühlen und Wollen – als gleichberechtigt betrachtet.

Die Norwegerin Ellen Köttker erklärt den Willensaufbau des Menschen anhand des vierten Tages. Nachdem sie den Weg vom körperbezogenen Instinkt bis herauf zum geistigen Entschluss gezeigt hat, vergleicht sie ihn mit der Biografie eines Menschen: Ist das neugeborene Kind noch Gefangener seiner Instinkte, so werden diese doch bald zu Trieben und Begierden. Noch ist alles körper- und befriedigungsorientiert – das bleibt auch bis weit in die Kindergartenzeit so. Im Lauf der Schulzeit ist es die Aufgabe der Lehrer, den Willensprozess im Kind immer bewusster werden zu lassen, also für Motive (deshalb: Motivation) zu sorgen. Schließlich sollen unsere ehemaligen Schüler dereinst als freie Menschen nicht nur von äußeren Zwängen, sondern auch von den Bedürfnissen ihres Körpers so wenig wie möglich abhängig sein. Je einfacher es uns fällt, unseren Willen bewusst einzusetzen, desto freier werden wir in den Entscheidungen, die wir fällen, und desto zuverlässiger sind wir im Umgang mit anderen Menschen. In der modernen Waldorfpädagogik sagen Lehrer und Lehrerinnen immer seltener: «Schau mal, wie ich das mache!», und immer öfter: «Probier’s mal aus – ich helfe dir dabei!» Es muss uns darum gehen, die Willensflamme des einzelnen Kindes zu entfachen, damit es aus eigenem Antrieb heraus begeistert lernt. Das verlangt ein Umdenken einiger bewährter Traditionen, beginnt aber schon in der ersten Klasse. Eigentlich muss ich den Kindern gar nichts beibringen – ich muss nur dafür sorgen, dass sie wollen wollen.

Links: Jost Schieren; Rechts: Marcel de Leeuw, Fotos: Wolfgang Held

Ben Cherry, der schottische Kosmopolit und Chinaexperte, nimmt den Auftrag des fünften Vortrages sehr persönlich und spricht ganz aus dem Gefühl: «Sind wir unserer Aufgabe gerecht geworden?», fragt er gleich zu Beginn. «Unsere Pädagogik – davon bin ich überzeugt – ist so wertvoll, so durchdacht und vernünftig. Warum ist sie noch nicht die populärste der Welt?» Er sieht diesen Tag des Kurses als Herzstück – der Blutstrom kommt für einen winzigen Moment zur Ruhe und wir können urteilend schauen: Was muss geschehen, um gesundend zu wirken?

Urs Dietler leitet den Abschnitt des Kurses ein, der sich mit dem geistigen Aspekt des Menschen befasst und mit Wachen, Träumen und Schlafen seine Bewusstseinszustände untersucht. Am sechsten Tag spricht Steiner über den ‹gesunden Menschenverstand›, den nicht nur Lehrer besitzen müssen, sondern den sie auch den Schülerinnen und Schülern vermitteln sollen. Im Französischen heißt das ‹le bon sens› (der gute Sinn), auf Englisch ‹common sense› (Konsens). Er beschreibt Vorurteilslosigkeit und Unbefangenheit – man könne ihn, so Dietler, auch als ‹Wirklichkeitssinn› oder ‹Wahrheitssinn› bezeichnen.

Susanne Speckenbach, eine der Herausgeberinnen, beschreibt, wie sie als Waldorflehrerin zu dieser Aufgabe kam und welche Bereicherung das akribische Heraussuchen und Vergleichen der Originalquellen für ihr Verständnis des Kurses darstellte. Sie skizziert anschaulich Steiners Methode des vergleichenden Begreifens: Um ein Ding zu beurteilen, muss ich es in Bezug zu Ähnlichem und zu Gegensätzlichem stellen. Aus dem methodischen Teil greift sie den Ansatz zur Menschen- und Tierkunde heraus, wo Steiner das ganz deutlich zeigt: Erst in der charakterisierenden Gegenüberstellung von Mensch und Tier lässt sich das einzelne Wesen verstehen – das eine in seiner Spezialisierung, der andere in seiner Universalität.

Als gefühlvollem Willensmensch ist Florian Osswald der Schlaf wichtig – nicht nur, was dieser nachts mit uns macht, sondern vor allem seine Bedeutung im Sozialen. Wie, so fragt er in seinem Beitrag zum achten Vortrag, können wir unseren Schülern und Kollegen so begegnen, dass wir uns gemeinsam an unsere in der Nacht gefassten Entschlüsse erinnern? Er weist auch, mit Bezug auf die Steiner’sche Sinneslehre, auf den ganzheitlichen Ansatz der Waldorfpädagogik hin: Was wir von uns geben, geht durch zwölf Filter und wird in der Seele des Kindes wieder zusammengesetzt. Dass es dann nicht einseitig wird und wirkt, dafür muss unsere Methodik sorgen.

Der Stuttgarter Professor und Fremdsprachenexperte Peter Lutzker führt in den neunten Tag ein, wo es um den Weg von der Wahrnehmung zum Begriff geht. ‹Schluss›, so Lutzker, kommt hier von ‹anschließen› – eben das, was dem Sinneseindruck folgt. Die materialistische Pädagogik beginnt mit dem Begriff und erläutert ihn dann. Waldorflehrer, Steiners Anregung folgend, gehen im ‹Dreischritt› vor: Man bringt ein Bild, das möglichst stark und erweckend wirkt (den Schluss), setzt es in Beziehung zu anderen verwandten Phänomenen (dem Urteil) und endet schließlich mit einem möglichst lebendigen Begriff. Um Letzteres zu erreichen, muss der mittlere Teil charakterisierend, nicht definierend gestaltet werden. Definitionen stehen still, erheben den Anspruch der ewigen Gültigkeit. Begriffe, die aus der Charakterisierung entstehen, bleiben lebendig – sie können sich mit neuen Eindrücken weiterentwickeln und sind von Mensch zu Mensch zwar ähnlich, aber nicht identisch: Mein Begriff vom Salz ist weitaus weniger differenziert als der eines Chefkochs. Ein Chemiker wiederum wird völlig andere Urteile in seine Begriffsbildung einfließen lassen. Koch und Chemiker, obwohl beide Salzfachleute, können noch sehr viel voneinander lernen und ihre bereits hochentwickelten Begriffe vom Salz weiter reifen lassen.

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In der Waldorfpädagogik sagen Lehrer und Lehrerinnen immer seltener: «Schau mal, wie ich das mache!», und immer öfter: «Probier’s mal aus – ich helfe dir dabei!» Es muss uns darum gehen, die Willensflamme des Kindes zu entfachen, damit es aus eigenem Antrieb heraus begeistert lernt.

Jon McAlice, nachdem er wie eingangs beschrieben den Duktus der Menschenkunde ins Bild gesetzt hat, spricht über die Dreigliederung des menschlichen Körpers und erläutert anlässlich des zehnten Tages die Metamorphose: Gehe ich in Afrika auf Safari, begegne ich vielerlei Tierspuren, die mir ein kundiger Führer übersetzen kann: Hier lief gestern Nacht ein Löwe, dort schlängelte sich heute Morgen ein Krokodil. Wahrscheinlich kürzt er das sprachlich ab: Das ist ein Affe! Dies ist ein Gepard. Sofort habe ich dabei das Tier in der Vorstellung, vor mir aber habe ich nichts als seine Spuren. So ist es auch mit der Metamorphose: Lege ich die Blätter einer Pflanze nebeneinander, sorgfältig geordnet nach ihrer Position am Stängel, so offenbart sich mir eine Entwicklungsreihe, und ein Prozess wird sichtbar. In Wirklichkeit sehe ich aber nur seine Spuren. Das eigentlich Wirksame bleibt mir verborgen, denn es ist immer in Bewegung. Das Leibliche, so Steiner, können wir nur verstehen, wenn wir es als Ausdruck des Seelisch-Geistigen betrachten, als sichtbaren Wegweiser auf die Kraft des Unsichtbaren.

Beim Anschauen der einzelnen Wirbel in der menschlichen oder tierischen Wirbelsäule geht es uns genauso: Nach unten hin, wo die Beine uns Struktur und solide Sicherheit verschaffen, sind die Körper der Wirbel am betontesten – am anderen Ende im Hals ist es der elegante offene Bogen, der dem weichen Rückenmarkskern Raum verschafft. Und über ihm liegt der Dom der Schädeldecke. An keinem einzelnen Wirbel lässt sich das ablesen. Jeder hat etwas von seinen beiden Nachbarn, aber erst in der ganzen Reihe erleben wir die Transformation. Was wir sehen, sind wieder nur die sichtbaren Spuren eines geistigen Prozesses, der Gestaltungskräfte der Natur.

 


Ben Cherry, Foto: Wolfgang Held

Ben Cherry, Foto: Wolfgang Held

 

Der Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen, Christian Boettger, greift ein Zitat aus dem elften Vortrag: «Sie müssen ein guter Kamerad der Naturentwicklung werden!» Ein Kamerad, so Boettger, ist einerseits ein Freund, dem man vertraut und dessen Persönlichkeit man sich verbunden fühlt, andererseits auch ein Kollege, mit dem man eine gemeinsame Aufgabe zu bewältigen hat. Von solchen erläuternden Einblicken angeregt, merkt man als Tagungsteilnehmer mehr und mehr, wie die Herausforderung, beweglich zu denken, und die Erwartungen Steiners, das gesundende Tun betreffend, sich durch Herzenswärme zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Steiner warnt an dieser Stelle davor, schädigend auf das einzuwirken, was sich im Kind natürlich entwickeln will. Es geht aber auch um die Natur als solche: Hatte die Waldorfpädagogik vor 100 Jahren noch keinen ausdrücklichen Auftrag, nachhaltig zu arbeiten, so ist diese Vorgehensweise doch mindestens impliziert, und Lehrplan sowie Methoden sind geradezu prädestiniert für ökologisch sinnvolles Arbeiten. Was wir tun, könnte Vorbildcharakter haben – nur müssen wir uns dieser Verantwortung auch bewusst sein.

Brigitte Langguth-Pütz, eine von leider nur drei weiblichen Vortragenden, geht mit dem zwölften Tag pragmatisch um: Steiners bekannte Klage, zu viele Menschen führen mit der Straßenbahn, ohne ihre Funktionsweise zu verstehen, nimmt sie zum Anlass, neue Arbeitsformen in der Oberstufe einzuführen: Es könnten fächerübergreifende Epochen stattfinden, die statt der üblichen drei auch sechs oder acht Wochen dauern würden und den Schülerinnen und Schülern weitaus mehr Vertiefung ermöglichten. Historiker, Physiker und Handwerker könnten hier gemeinsam Impulse geben und jedem Schüler, jeder Schülerin einen individuellen Zugang zum Thema Technologie verschaffen.

Kurz umreißt Steiner das Thema Sexualkunde im 12. Vortrag, will es aber zu jener Zeit noch ganz den Eltern überlassen. Heute gibt es natürlich bereits viele gute und erprobte waldorfpädagogische Ansätze auf diesem Feld. Brigitte Pütz hat auch hier eine interessante Idee: Die Hochzeitsnacht von Parzival und seiner Braut, die in der Epoche der 11. Klasse natürlich zum Thema kommt, gibt ein anrührendes und gar nicht altmodisches Bild der partnerschaftlichen Sexualität. Hier werden Verlangen, Zärtlichkeit, Respekt und Treue aus mittelalterlicher Perspektive trotzdem zeitlos thematisiert. Unschuldig und zugleich selbstbejahend wird eine nahelos ideale Liebesbeziehung dargestellt, und im Klassenzimmer wird es ‹stiller als still›.

Wenn Albert Schmelzer aus Mannheim als einer der anerkanntesten Kenner der ‹Allgemeinen Menschenkunde› über den 13. Vortrag sagt: «Hier kommt man an die Grenzen des Verstehens», dann wissen wir, es steht uns eine denkerische Herausforderung bevor. Man muss nicht nur genau hinhören, sondern selbst weiterdenken, um nachvollziehen zu können, warum geistige Arbeit in Wirklichkeit körperliche Arbeit ist (und umgekehrt). Schmelzer gelingt es auch, einem potenziell kontroversen Zitat Steiners die provozierende Note zu nehmen, indem er es in einen karmischen Zusammenhang stellt: Neigt der Mensch «in abnormer Weise» zur Fettleibigkeit, so stellen sich die Fettablagerungen dem Geistigen in den Weg und man «pfuscht dem Weltenprozess ins Handwerk».Was kann da gemeint sein?

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Rudolf Steiner verweist siebenundzwanzig Male auf die Wichtigkeit der Phantasie, als höchste Qualität des Lehrerberufes. Ministeriale Lehrpläne, vorgeschriebene Methodik soll es in dieser Schule nicht geben. Sie verlangt nach vom Stoff begeisterten, aus hingebungsvoller Liebe zum Kind arbeitenden freien Menschen, die ihre Aufgabe als Kunst und sich selbst als Künstler verstehen.

Zunächst einmal spricht Steiner hier von Kindern – nicht von Babyspeck, sondern von abnormer, also nicht genetischer Fettleibigkeit. Im vierten Vortrag führte er aus, dass uns der halbbewusste Wunsch, eine Handlung beim nächsten Mal besser auszuführen, über den Vorsatz zu einem erst nachtodlich gefassten Entschluss bewegt. So spielt das vergangene Leben in das jetzige, das gegenwärtige Leben in das kommende hinein: Bei der erneuten Verkörperung werden die in der geistigen Welt gefassten Entschlüsse zwar vergessen, bleiben aber im Unterbewussten (oder auch Überbewussten) vorhanden. Hier hat der am Anfang des Vortrages erwähnte geistige ‹Sog› seinen Ursprung, der uns vorwärtszieht: Nichts undefiniert mystisch Waberndes, sondern unsere eigenen, selbstbestimmten konkreten Ziele konstituieren den ‹Geist›. Das Problem der Fettleibigkeit – jedes siebte deutsche Kind ist deutlich übergewichtig (Studie des Robert Koch Institutes 2018) – geht also weit über Herz-Kreislauf-Belange hinaus. Ohne das moralisch bewerten zu wollen, kann ein nicht erblich bedingtes Übergewicht tatsächlich negative Auswirkungen auf die freie Umsetzung unseres Schicksalsweges haben. Diese Hinweise, wie das Leibliche dem Seelisch-Geistigen abträglich sein kann, lassen erahnen, dass unsere Verantwortung als Pädagogen nicht nur das Beibringen von Inhalten, sondern auch gesunde Bewegung und Ernährung umfasst.

Schließlich kommen wir zum Abschlusstag der Tagung und zum 14. Vortrag des Kurses – eigentlich, wie uns Tomas Zdrazil von der Stuttgarter Hochschule in Erinnerung ruft, sind es ja 49 Einheiten, die Steiner mit den Teilnehmern in drei Wochen durchgenommen hat. Insgesamt verweist er in dieser Zeit 27 Mal auf die Wichtigkeit der Fantasie, die er als die höchste Qualität des Lehrerberufes schätzt. Ministeriale Lehrpläne, vorgeschriebene Methodik soll es in dieser Schule nicht geben. Sie verlangt nach vom Stoff begeisterten, aus hingebungsvoller Liebe zum Kind arbeitenden freien Menschen, die ihre Aufgabe als Kunst und sich selbst als Künstler verstehen.

 


Foto: Sven Saar

Foto: Sven Saar

 

Fühlen, dass hier der eigene Weg ist

Stellt er den Teilnehmern Aufgaben, sind diese bewusst freilassend: Sie sollen ausarbeiten, wie man verschiedene Temperamente berücksichtigend rechnet, Poetisches in den Fremdsprachen einführt oder Ellipsen erklärt. An diesem 14. Tag kommen sieben Teilnehmer zu Wort. Noch immer wissen sie nicht, ob ihre Aufgaben auch dem entsprechen, was sie im kommenden Jahr, ja in der kommenden Woche unterrichten werden. Wir lesen beispielhafte Darstellungen über Astronomie, Algebra, Geschichte, Geografie, Zinsrechnung, Geometrie und Musik. Sicher hat Steiner die ganzen drei Wochen über die Aufgaben sehr bewusst verteilt und die potenziellen Lehrer damit auf ihre Eignung geprüft. Es liegt aber auch nahe, dass er sie durch sein langes Zögern, ihnen bestimmte Klassen zuzuweisen, darauf vorbereiten wollte, dass es zum Beruf des Lehrers gehören muss, sich für alle Inhalte interessieren, ja begeistern zu können. Hier spürt man als moderner Waldorflehrer an sich selbst, nach nur acht Tagen in unserer oberflächlicheren, schnelllebigen Zeit durchaus erschöpft, die biografische Dramatik der damaligen Situation: Zwei Tage vor dem Eintreffen der Kinder hatte Steiner die Lehrplanvorträge noch nicht gehalten und den Lehrern noch nicht ihre Klassen zugeteilt: Das geschah erst am Tag vor der Eröffnung! Man mag sich vorstellen, dass damit auch zum Ausdruck kommen sollte, dass in einer Waldorfschule eben alle gemeinschaftlich für alles verantwortlich sein sollen – sie tragen den Impuls zusammen.

Das abschließende Plenum war – wie man das von internationalen Tagungen kennt – von Herzenskräften erfüllt. Marcel de Leeuw, der wache, intuitive Waldorflehrer, reagierte auf die Stimmung auf zweierlei Weise: Er beschrieb seine erste Begegnung mit der Anthroposophie: Voll überschwänglicher Begeisterung hatte er damals seinen Freunden von dem neuen Impuls in seinem Leben berichtet. Als die ihn baten, das genauer zu erklären, verstummte er: Er konnte fühlen, dies war sein Weg – der verstehende Blick auf die Landkarte würde ihm sich erst nach und nach erschließen. Nachdem er so auf charmante Weise die vielen Menschen im Saal zurück ins Boot geholt hatte, denen im Laufe der Woche wohl manchmal die Mittel zur Navigation fehlten, zeichnete er noch in drei Minuten ein Tafeldiagramm und sagte: «So! Das ist jetzt die Menschenkunde einmal einfach erklärt!»

Der warme, lächelnde Applaus war zugleich der Beginn einer brasilianisch geprägten Sing- und Tanzkette, die sich aus dem Grundsteinsaal heraus in die Wandelhalle zog und Lebensfreude geradezu versprühte. Wird es solch eine inhaltlich hochwertige, ähnlich lange, kulturell freilassende Tagung bald wieder geben? Da kommen wir im Sinne des vierten Vortrages jetzt in den Bereich des Geistselbst: Hunderte von Menschen wünschen es sich.


Titelbild: John McAllice. Foto: Sven Saar

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